Else Weil gehört zu jenen bemerkenswerten Frauen des frühen 20. Jahrhunderts, deren Lebensgeschichten lange im Schatten bedeutenderer Persönlichkeiten standen. Dabei war sie selbst eine beeindruckende Figur: eine der ersten jüdischen Ärztinnen Deutschlands, eine emanzipierte, intellektuelle Frau und zugleich Muse eines der wichtigsten deutschen Schriftsteller der Weimarer Republik – Kurt Tucholsky.
Geboren am 19. Juni 1889 in Berlin als älteste Tochter eines wohlhabenden jüdischen Bankiers, wuchs Else Weil in einem liberalen, bildungsorientierten Elternhaus auf. Bereits früh zeigte sie eine starke akademische Begabung und ein Interesse an Naturwissenschaften. Für Frauen war der Weg in akademische Berufe damals ungewöhnlich und schwierig, dennoch legte sie 1910 ihr Abitur ab und schrieb sich im selben Jahr für das Medizinstudium an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität (heute Humboldt-Universität) ein.
Im medizinischen Bereich gehörte sie zu einer Gruppe mutiger Pionierinnen: Frauen durften erst seit wenigen Jahren offiziell an deutschen Universitäten Medizin studieren. Trotz Vorurteilen und struktureller Benachteiligung bestand sie 1916 das Staatsexamen und promovierte 1918 erfolgreich zum Dr. med. Kurz nach Kriegsende eröffnete sie ihre eigene Praxis in Berlin – ein bemerkenswerter Schritt für eine Frau ihrer Zeit.
Else Weil und Kurt Tucholsky – Eine besondere Beziehung
Wie sich ihre Wege kreuzten
Im Jahr 1911 begegnete Else Weil dem jungen, damals noch wenig bekannten Schriftsteller Kurt Tucholsky. Die beiden verband eine Mischung aus Liebe, intellektuellem Austausch und jugendlicher Lebensfreude. Der gemeinsame Kurzurlaub in Rheinsberg wurde später zum Ausgangspunkt für eines der bekanntesten Werke Tucholskys: Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte (1912).
Die weibliche Hauptfigur „Claire“, eine moderne, selbstbewusste junge Frau, basiert eindeutig auf Else Weil. Tucholskys literarische Darstellung machte sie unsterblich – wenn auch vielen Leserinnen und Lesern lange nicht bewusst war, welches reale Vorbild dahinterstand.
Ehepartner: Kurt Tucholsky

Die Beziehung zwischen Else Weil und Kurt Tucholsky blieb über Jahre hinweg lebhaft und wechselhaft. Am 3. Mai 1920 heirateten die beiden. Die Ehe war jedoch nicht einfach. Tucholsky, rastlos, politisch engagiert und oft auf Reisen, führte ein turbulentes Leben. Else Weil wiederum arbeitete intensiv als Ärztin und war beruflich stark eingebunden.
Die Ehe hielt lediglich bis 1924, als sie nach einer längeren Phase der Entfremdung geschieden wurde. Später soll Else Weil über ihre Zeit mit Tucholsky gesagt haben:
„Als ich über die Damen hinwegsteigen musste, um in mein Bett zu kommen, ließ ich mich scheiden.“
Dieses Zitat verdeutlicht, dass Tucholskys häufige Affären ein zentraler Grund für das Ende der Ehe waren. Dennoch blieben beide auch nach der Trennung in losem Kontakt, was zeigt, dass gegenseitige Wertschätzung und Erinnerung weiterbestanden.
Else Weil in Tucholskys Leben und Werk
Obwohl die Ehe scheiterte, blieb Else Weil eine der prägenden Frauenfiguren in Tucholskys Biografie. Neben der literarischen Figur „Claire“ finden sich in seinem Werk zahlreiche Anspielungen auf die mutige, kluge und humorvolle Ärztin.
Dass ausgerechnet eine Ärztin und selbstbestimmte Frau seine literarische Muse wurde, unterstreicht Tucholskys Bewunderung für intellektuelle Gleichberechtigung und weibliche Autonomie – Themen, die damals gesellschaftlich noch wenig akzeptiert waren.
Die berufliche Laufbahn – Der Weg einer frühen Medizinerin
Else Weil eröffnete nach ihrer Promotion eine eigene Praxis und arbeitete darüber hinaus in verschiedenen Berliner Krankenhäusern. Besonders hervorzuheben ist ihre Tätigkeit an der Charité, einer der renommiertesten Kliniken Europas. Dort war sie zunächst als Assistenzärztin und später als praktische Ärztin tätig.
Sie behandelte Patientinnen und Patienten in einem medizinischen Umfeld, das damals stark männlich geprägt war. Trotz vieler Hürden konnte sie sich durchsetzen: ihre fachliche Kompetenz, ihr Engagement und ihr Einfühlungsvermögen machten sie zu einer angesehenen Medizinerin.
Neben ihrer beruflichen Leistung war sie eine sozial orientierte Ärztin. Zeitzeugeberichte und historische Dokumente legen nahe, dass sie häufig bedürftige Patientinnen und Patienten unterstützte und ihre Arbeit als gesellschaftliche Verantwortung verstand.
Verfolgung im Nationalsozialismus – Der Verlust des Lebenswerks
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 begann für Else Weil – wie für viele jüdische Intellektuelle und Ärzte – eine dramatische Abwärtsspirale.
Bereits im April 1933 verlor sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ihre Kassenzulassung. Damit konnte sie kaum noch Patientinnen und Patienten behandeln und verlor ihre wirtschaftliche Basis.
1938 wurde ihr schließlich die ärztliche Approbation entzogen.
Das bedeutete das endgültige Berufsverbot – ein schwerer Schlag für eine Frau, deren Leben von medizinischer Berufung geprägt war.
Die politische Lage verschärfte sich weiter, sodass Else Weil gezwungen war, Deutschland zu verlassen. Zunächst floh sie in die Niederlande, später nach Frankreich. Doch auch dort war sie nicht sicher: Die nationalsozialistische Besatzung Frankreichs führte dazu, dass sie 1942 verhaftet wurde.
Von dort gelangte sie über das berüchtigte Internierungslager Drancy nach Auschwitz-Birkenau, wo sie am 11. September 1942 ermordet wurde.
Ihr Tod ist ein tragisches Beispiel dafür, wie viele begabte jüdische Frauen während des Holocaust ausgelöscht wurden – Frauen, die ihre Berufe, ihre Familien und letztlich ihr Leben verloren.
Gedenken und heutige Rezeption
Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet Else Weil jahrzehntelang weitgehend in Vergessenheit. Erst seit den 1990er- und 2000er-Jahren wird sie wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt.
Mehrere Initiativen, Museen und Autorinnen haben sich bemüht, ihr Leben neu zu beleuchten:
- Ein Stolperstein in Berlin-Friedenau erinnert heute an sie.
- Das Kurt-Tucholsky-Museum in Rheinsberg widmete ihr eine eigene Ausstellung.
- Biografische Artikel und Projekte über jüdische Ärztinnen rücken ihre Lebensleistung erneut ins Licht.
- Literaturwissenschaftlerinnen heben hervor, dass sie weit mehr war als die „Claire“ aus Tucholskys Rheinsberg – nämlich eine selbstbestimmte, beruflich erfolgreiche Frau mit eigenständiger Biografie.
Heute gilt Else Weil sowohl als ein Beispiel für die Emanzipation der Frauen im frühen 20. Jahrhundert als auch als Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungswahns. Ihre Geschichte erinnert daran, dass hinter großen literarischen Figuren reale Menschen stehen, deren Leben Aufmerksamkeit und Würdigung verdienen.
Abschließende Würdigung
Else Weil war eine Frau, die ihrer Zeit voraus war: medizinisch kompetent, gesellschaftlich engagiert, intellektuell unabhängig und literarisch bedeutend. Ihre kurze Ehe mit Kurt Tucholsky formte nicht nur sein Werk, sondern zeigt auch, wie moderne Liebes- und Rollenbilder bereits vor über hundert Jahren existierten.
Ihr Lebensweg – von akademischer Pionierin über literarische Muse bis hin zum Opfer des Holocaust – erzählt eine Geschichte, die exemplarisch für viele jüdische Frauen jener Zeit steht.
Mit diesem Artikel möchte Tages Zeitschriften dazu beitragen, ihre Erinnerung lebendig zu halten und ihre Bedeutung einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
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